Die Saga vom Sündenbock

Als der junge Wassermann noch klein war, liebte er Märchen, Sagen und Legenden. Tag für Tag erzählte ihm die Flussfrau vom Rumpelstilzchen, vom Piraten von Störtebeker oder von Till Eulenspiegel. Und kaum war eine Geschichte zu Ende, wollte er die nächste hören, stundenlang, mit grossen Augen und mucksmäuschenstill, bis er schliesslich einschlief.

Eine Geschichte, die es ihm besonders angetan hatte, war die Saga vom Sündenbock. Abend für Abend wollte er sie aufs Neue erzählt bekommen, wollte hören, was dem Geissbock Göck Böses widerfahren war und Abend für Abend weinte er sich aus Mitleid mit dem armen Böckchen in den Schlaf. Die Flussfrau sah wohl, wie sehr das traurige Schicksal dieses Tieres ihrem Sohnemann zusetzte und entschied sich deshalb zu der Schummelei, der Geschichte ein neues, gerechteres Ende zu verpassen.

«Lieber Sohn», begann sie eines Morgens mit der Zeitung in der Hand. «Du glaubst nicht, was ich hier gerade lese! In einer Höhle tief in den Wäldern des osmanischen Reiches, hat man die Saga vom Sündenbock auf Pergamentpapier gefunden. Eine uralte, vergilbte Rolle, aus dem 5. Jahrhundert vor Christi haben die Historiker ausgegraben und es scheint, dass dies die erste und somit wahre und richtige Version der Geschichte ist. Und denk dir mein Lieber, das Wunderbare ist, dass sie hier gut ausgeht für unsern Göck! Willst du sie vielleicht hören?»

Und natürlich wollte der kleine Wassermann sie hören, grad jetzt und sofort und somit begann die Flussfrau auch umgehend zu erzählen:

Es war einmal ein kleiner, lebenslustiger Geissbock namens Göck. Er wuchs in einer Herde schneeweisser Schafe auf und kein Mensch und kein Tier weiss, wie es zu diesem fatalen Irrtum gekommen war. Alle Schafe dieser Herde waren rechtschaffen und tugendhaft und somit zu hundert Prozent fehlerfrei. Göck beneidete die Schafe sehr um ihre weisse Weste und liess nichts unversucht, um so zu werden wie sie. Aber sein Fell blieb braungefleckt, egal wie lange er sich in den Regen stellte. Auch war es eine Tatsache, dass ihm das Bockspringen mehr Freude bereitete als das Grasen und Glotzen und überhaupt fand er es furchtbar langweilig, den ganzen Tag dem Leitschaf hinterher zu blöken.

Bei diesem allerdings stand Göck längst unter Beobachtung: Wie er so hüpfte und sprang und sich des Lebens freute, fühlte die alte Aue für einen flüchtigen Augenblick, wie schön es doch sein müsste, sich ebenso unbeschwert durch die Gegend bewegen zu können. Doch ein Blick auf ihre kurzen Beine erinnerte sie blitzartig an ihre wahre Bestimmung und deshalb sagte sie zu ihrem Mann:

«Sieh dir diesen frechen Furzi an! Was glaubt denn der, wer er ist? Und wie der hüpft, zum Fremdschämen ist das.»

Und der Widder dachte, was interessiert es mich, was der Göck macht, der ist mir sowas von wurstegal, Hauptsache ich fresse das grünste Gras auf der Weide und habe meine Ruhe. Und damit das alles auch weiterhin so bleiben würde, kam er dem Willen seiner Frau nach und ermahnte Göck in ihrem Auftrag:

«Göck du Tunichtgut, hör mal mit der Hüpferei auf, du bist so was von unbegabt dafür. Zudem pflegen wir in dieser Herde zu grasen und zu glotzen, also reiss dich gefälligst am Riemen.»

Göck tat das Herz fürchterlich weh bei diesen Worten. Aber er wünschte sich so sehr, ein wichtiger und wertvoller Teil seiner Herde zu sein, dass er sich ab sofort noch viel mehr anstrengte, ein fehlerfreies Schaf zu werden.

So vergingen die Jahre und aus dem kleinen Göck wurde ein stattlicher Bock, der nur noch selten und nur im Versteckten das Bockspringen wagte und deshalb zusehends schwermütiger wurde. Die glänzenden Hörner aber, welche auf seinem Haupt gewachsen waren, gefielen der Aue so gut, dass sie sie am liebsten selber auf ihrem Wollkopf getragen hätte. Deshalb giftelte sie zu ihrem Mann:

«Schau ihn dir doch an diesen Hochstapler mit Hörnern. Wer glaubt er denn, wer er ist? Und wie der ausschaut, wie der Teufel, der bringt noch unsere ganze Herde in Verruf.»

Und der Widder, der mittlerweile dauersatt und faul geworden war und das Denken komplett an die Aue abgegeben hatte, nahm Göck zur Seite und drohte:

«Göck, du Sorgenkind, irgendetwas stimmt nicht mit dir, ich weiss nicht, weshalb du nicht sein kannst, wie wir. Ein letztes Mal, reiss dich am Riemen, ansonsten werden wir hier die Konsequenzen ziehen.»

Was für ein Schafskopf, dachte Göck und es überkam ihn endlich eine Wut, die grösser war als er selbst (inklusive Hörner). Er fing an, sich lautstark über die Diktatur auf der Weide zu beschweren. Das eine oder andere Schäfchen pflichtete ihm bei, eine Sauerei sei das hier auf dieser Schafswiese und man müsse aufstehen für Toleranz und gegenseitigen Respekt. Und Göck dachte, wusst ich’s doch, am Ende siegt die Wahrheit und jetzt machen wir hier Revolution und danach lebt jeder, wie es ihm gefällt.

Doch als der Morgen der Wahrheit anbrach, hatten sich die Mitstreiter verflüchtigt und grasten stattdessen einträchtig mit dem Leitschaf und seinem Mann auf den grünsten Ecken der Wiese. Gemeinsam sprach man Göck des Aufstandes und des Verrates schuldig. Die Höchststrafe wurde verhängt und subito vollstreckt und der «sture Bock» für immer und ewig der Herde verwiesen.

Bevor man ihn aber mit Schimpf und Schande und einem schmerzhaften Hieb davonjagte, belud man ihn mit all den Sünden, die auf dieser hochanständigen Wiese keinesfalls länger geduldet werden konnten. Und so kam es, dass Hochmut und Habgier, Zorn und Neid und zuoberst gar noch die Faulheit auf Göcks Rücken landeten. Da fühlten sich die weissen Schafe mit einem einzigen Schlag noch tugendhafter und anständiger als je zuvor.

Böck aber rannte und rannte, so weit weg wie er konnte. Er lief ohne Halten bis ihm der Schweiss in Strömen vom Fell lief und ihn die sengend heisse Sonne zum Anhalten zwang. Ein Geier auf einem Kaktus sitzend, beobachtete ihn listig und krächzte:

«Willkommen in der Wüste, du Sündenbock! Bild dir bloss nichts ein, du bist bei Weitem nicht der Erste, der hier landet»

Du heiliger Schafsdreck, es ist also wahr, dachte Göck und legte sich erschöpft zu Fusse des Kaktus. Der Sündenbock landet tatsächlich und unabdinglich immer in der Wüste.

….. wo er….  Nein …!  Jetzt eben jetzt nicht! Nicht in dieser, nicht in der Version der Flussfrau.  Wird Göck nicht vor Durst, Last und Kummer zusammenbrechen und gar sterben! Sondern er wird im Gegenteil…

 

Und wenn ihr euch wie der kleine Wassermann ein Happy End zu euerm ganz persönlichen Glück wünscht, so bleibt dran und lest demnächst, wie es Göck in der Wüste ergangen ist!

Auf bald eure Flussfrau

 

 

 

 

 

  

 

 

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